„Ich
könnte wahrscheinlich sogar einen Truthahn oder eine Ampel spielen und
wäre wahrscheinlich überzeugend.“, hat Robert de Niro einmal
in einem seiner raren Interviews in einem Anfall von Größenwahn gesagt,
um dann bescheidener fortzufahren: „Viel schwerer ist es allerdings scheinbar
normale Menschen darzustellen, die in Grenzsituationen geraten und damit fertig
werden müssen.“ Solch einen Charakter hat der amerikanische Ausnahmemime
italienisch-irischer Herkunft am Zenit seiner Karriere in Michael-Ciminos erschütternder
Vietnamkriegs-Auseinandersetzung „Die durch die Hölle gehen“
(1979) verkörpert: Der Film handelt vom Schicksal der drei Freunde Nick
(Christopher Walken), Steven (John Savage) und Michael (Robert de Niro). Sie
gehören zu einer im Stahlwerk arbeitenden Männerclique osteuropäischer
Emigranten der zweiten und dritten Generation, die sich in einem kleinen Industrieort
Pennsylvanias noch eine intakte Gemeinde diesseits amerikanischer Abfallkultur
bewahrt haben. Sie feiern und trinken zusammen, sind hinter den Mädchen
her und gehen in den Wäldern der Alleghennys auf Jagd.
Die Handlung beginnt mit der russisch-orthodoxen Heirat zwischen Steven und
Angela (Rutanya Alda), einer fast einstündigen, mitreißend gespielten
Sequenz, die in ihrer unbeschwerten Vitalität im krassen Gegensatz zum
weiteren Verlauf des Films steht. Die alten Sitten und Gebräuche werden
immer noch gepflegt. Dennoch lassen die drei Männer nicht den geringsten
Zweifel aufkommen, dass sie sich von ganzem Herzen als Amerikaner fühlen
Sie sind stolz auf ihre Pflichterfülluung, verprügeln sogar einen
Offizier, der eben aus Vietnam kommt und „alles Scheiße“ findet.
Dass der Krieg, in den sie bald geschickt werden, sie völlig entwurzeln
wird, ahnen sie nicht. Ehe sie sich nach Vietnam einschiffen, wollen sie noch
einmal als letzte große Demonstration ungetrübten Männerdaseins
zusammen auf die Jagd gehen. Die Inszenierung erinnert hier an Norman Mailers
berühmte „Bärenjagd“. Das neblige Hochgebirge von urwüchsiger
Schönheit suggeriert absolute, feierliche Stille. In diese majestätische
Ruhe dringen nur die anfeuernde Rufe der Männer. Ein Hirsch, getroffen
durch Michaels Kugel, verendet qualvoll aufzuckend. Und plötzlich ist Vietnam
sehr nahe gerückt.
Gleich in der nächsten Einstellung, ohne Übergang, als ein Zugriff
von dramatischer Kühnheit, ist es dann auch da – das absolute Inferno.
Nick, Steven und Michael stecken in Bambuskäfigen, bis zum Hals in Dreckwasser,
dort eingepfercht für ein irres, teuflisches Mordspiel: Als Gefangene der
Vietkong werden sie gezwungen, vor ihren Folterknechten russisches Roulette
zu spielen: Ein Trommelrevolver mit einer scharfen Kugel wandert von einem Gefangenen
zum nächsten – mehrere US-Soldaten sind so vor ihnen bereits „ausgeschieden“
Bezeichnend für den Film ist, dass alles Vorstellbare und bisher Unvorstellbare
mit großer Genauigkeit und fast ohne Worte vorgeführt wird. Keine
Schwurparolen oder Anklagen erklingen, im Gegenteil, denn Michael, der als einziger,
den Kopf behält und seinen Oberpeiniger sogar ins Gesicht lacht, als dieser
ihn ohrfeigt, hat einen Plan, um seine beiden Freunde und sich zu retten. Er
berechnet nach einigen „Fehlversuchen“, wann die scharfe Patrone
an der Reihe ist und erschießt den Anführer der Vietcongs. Dank seiner
Beherztheit und dem daraus resultierenden Tumult, gelingt es ihnen die restlichen
Feinde unschädlich zu machen und zu fliehen, doch von da an, sind sie nur
physische und psychische Wracks. Steven verliert ein Bein, Nick kommt vom Todesspiel
nicht mehr los. Im Hexenkessel Saigons verdingt er sich bei einem französischen
„Geschäftsmann“, der in einem Lagerschuppen dasselbe Russische
Roulette veranstaltet.
Michael hoch dekoriert wie verstört nach Hause zurückgekommen, wo
er sich nicht mehr zurechtfindet, sucht bald darauf verzweifelt in Vietnam nach
Nick. Er findet ihn, bringt ihn aber nur als Leiche heim. Denn der mit Drogen
vollgepumpte Freund hat ihn nicht mehr erkannt, auch dann nicht, als Michael
in einer Verzweiflungstat sich noch einmal - diesmal allerdings freiwillig –
auf das Russische Roulette einlässt. Nick erwischt die volle Kammer. Wieder
in den Vereinigten Staaten antwortet Michael auf alle Fragen nach seinem Befinden
nur lakonisch: „Mir geht es gut.“ Als er wieder auf die Jagd geht
und einen staatlichen Hirsch vor sich sieht, vermag er es nicht mehr, auf ihn
zu schießen.
Der Orginaltitel von Ciminos schonungslosem Geniestreich lautet „The Deer
Hunter“. Er bezeichnet genau das, was in diesem Film Menschen durch Menschen
angetan wird. Alle sind Jäger, alle sind Gejagte. Doch nicht das übliche
Schlachtenpanorama wird vorgeführt, sondern es wird vielmehr ein Seelengemälde
nachgezeichnet von Männern, die in die Hochöfen des Krieges hineingeraten
sind, dabei zugrunde gehen oder zumindest für ihr ganzes Leben gezeichnet
werden. Alle schauspielerischen Leistungen wirken beklemmend authentisch, werden
aber dominiert von Robert de Niro, der Michael zuerst mit verhaltener Spannkraft,
dann mit dunkler Bedrücktheit ausstattet. Es ist vielleicht seine vielseitigste
Rolle, obwohl der gelernte Method-Actor sie bewusst aufs wesentliche reduziert
anlegt und somit auch bei emotionalen Ausbrüchen immer seine Würde
behält. Der Oscar als bester Hauptdarsteller ging zwar an seinen Kollegen
Christopher Walken, doch der dafür nominierte de Niro hätte ihn ebenso
verdient gehabt, sicherlich mehr als für den Part in Martin Scorseses Boxerdrama
„Wie ein wilder Stier“ (1980), bei dem er in erster Linie durch
äußerliche Verwandlungskunst bestach. „Die durch die Hölle
gehen“ verursachte den größten Berlinale-Skandal nach Michael
Verhoevens Vietnam-Film „o.k.“, der wiederum 1971 zum vorzeitigen
Abbruch der Festspiele führte. 1979 schien sich das zu wiederholen. Die
sowjetische Delegation sah in den Russischen-Roulette-Szenen einen Verstoß
wider das Berlinale-Reglement „zum besseren gegenseitigen Verstehen zwischen
den Völkern“ sowie eine Beleidigung des „heroischen vietnamesischen
Volkes“ und zog sämtliche Beiträge aus dem Programm. Es folgten
geschlossen die anderen Staaten des Warschauer-Paktes. Die Festivalgeschichte
wurde erst bei der 50. Berlinale im Jahr 2000 zurechtgerückt, als der längst
als Klassiker geltende Film in einer Sondervorführung noch einmal gezeigt
wurde. Ganz ohne Eklat ging es auch nicht im neuen Jahrtausend: Weder Regisseur
Cimino noch Robert de Niro, der einen Ehrenbären für sein Lebenswerk
entgegennehmen sollte, kamen nach Berlin. Im letzteren Fall fast verständlich,
denn vor Auszeichnungen kann sich der Hollywood-Star kaum retten. Zwei Oscars
(für „Der Pate II“ und „Wie ein wilder Stier“),
dazu vier weitere Nomierungen, Preise der New Yorker Filmkritiker, ein Golden
Globe, Darstellerpreis und Goldener Löwe des Internationalen Filmfestivals
von Venedig, Ehrendoktor, Ritter der französischen Ehrenlegion, Lifetime
Achievement Award des American Film Institute, da kann man schon mal die Übersicht
verlieren. Dies mag allerdings auch für die Rollenauswahl einer lebenden
Schauspielerlegende, die ihre größte Zeit zwischen 1973 und 1983
hatte, in den letzten Jahren gelten: Kein anderer Akteur seines Rangs hat so
oft Nebenrollen akzeptiert, die wenig Gelegenheit zu Subtilitäten bieten,
sondern durch Manierismen hervorstechen – wie sein Al Capone in „Die
Unbestechlichen“ (1987), sein kleinwüchsiges (!) Monster in „Mary
Shelly’s Frankenstein“ (1994) oder als negative Krönung sein
grimassierender, von oben bis unten tätowierter „bad guy“ in
Martin Scorseses Remake des J.- Lee-Thompson-Thrillers „Cape Fear“
(1991), bei dem man sich fragt, wie dieser Mann frei herumlaufen kann. Hier
ist de Nero mit dem Method Acting über das Ziel hinausgeschossenen. Jener
Schauspiel-Kultur, die in den 1950er Jahren Mode war, jedoch bald persifliert
wurde. Unter Berufung auf Konstantin Stanislawski, der den Einfluss persönlicher
Erlebnisse von Schauspielern auf deren Figurengestaltung förderte, ging
dessen Admirant Lee Strassberg so weit, neurotische Akteure zu bevorzugen. Lediglich
Marlon Brando besaß genügend Selbstironie, um das Method Acting zu
praktizieren und gleichzeitig zu parodieren. Robert de Niro nimmt die „Methode“
manchmal zu ernst, doch hat er mit seinem unbestrittenen Charisma der cineastischen
Welt einige unvergleichliche Sternstunden geschenkt.
De Niro spielt seine Rollen nicht. Er ist die Figur, die er gerade verkörpert.
Auf seine Filme bereitet er sich mit der Akribie eines Insektenforschers vor.
Für sein Frühwerk „Bloody Mama“ (1969) hungerte sich der
am 17. August 1943 in New York City/Greenwich Village geborene Basketball-Fan
bei einer Größe von 1,75 Meter und einem Gewicht von 70 Kilo auf
magere 55 Kilo runter. Und versetzte sich so überzeugend ins Innenleben
eines Drogensüchtigen, dass Kollegen heute noch munkeln, er habe damals
die Räusche und Kater am eigenen Leib ausprobiert. Für den „Paten
II“ (1974) mischte sich de Niro sechs Wochen lang unter Sizilianer, um
sich ihre Gesten und ihren Dialekt anzueignen. Für seine Titelfigur in
„Taxi Driver“ (1976) chauffierte er nächtelang Fahrgäste
durch New York und schoß sich die Finger am Übungsstand wund, um
die blutige Revolverorgie am Ende überzeugend darzustellen. Bevor er im
Musical “New York, New York“ (1978) einen Musiker mimte, lernte
er drei Monate Saxophon spielen bei Jazzkoryphäe George Auld. Als Vorbereitung
seiner Rolle des ehemaligen Box-Weltmeisters Jake La Motta, lernte er bei diesem
höchstpersönlich das Boxen – so gut, dass er zwei von drei organisierten
Testkämpfen gewann und La Motta behauptete, de Niro gehöre zu den
„zehn besten Mittelgewichtlern Amerikas“.
„Das Schöne an meinem Beruf“, sagt Robert de Niro, „ist,
dass man in das Leben eines anderen schlüpfen kann, ohne den Preis dafür
zu zahlen.“ Understatement, wenn man bedenkt, dass der besessene Perfektionist,
um den alternden la Motta darzustellen, sich binnen zwei Monaten mit französischen
Entenpasteten 50 Pfund Fett anfutterte – nur, um hinterher per Nulldiät
wieder er selbst zu werden.
Vergleichsweise einfach hatte es de Niro bei Sergio Leones finalem Opus „Es
war einmal in Amerika“ (1984): Da brauchte er zuvor bloß ausführliche
Gespräche mit alten Mafiosi zu machen und in einem Grab probezuliegen.
De Niros 1991 verstorbener Vater, Filius eines italienischen Seefahrers und
einer Irin, lebte als Maler in New York. Seine Arbeiten hingen in den anspruchsvollsten
Galerien der Stadt. Seine Mutter, Malerin und Verlegerin, ließ sich scheiden,
als ihr Sohn zwei war. Beide Eltern kümmerten sich mehr um ihre künstlerische
Karriere als um die Nestwärme des eigenen Kindes. „Robert war viel
auf der Straße“, sagen Freunde. „Er war kein Rebell, aber
er lernte, sich durchzusetzen.“ Mit 16 ging de Niro ins weltberühmte
„Actors Studio“, wo er seinen Vorbildern Marlon Brando und James
Dean nacheifern wollte. Bevor de Niro als 21jähriger in Marcel Carnés
„Drei Zimmer in Manhatten“ (1964) auf der Leinwand debütierte,
stand er an kleinen off-off-Broadway- Bühnen. Eine harte, aber lehrreiche
Schule, die ihn prägen sollte. Der Multimillionär, dem als 50%iger
Teilhaber das multiplexe TriBeCa-Filmcenter mit Bars, Büroräumen und
Apartments in New York gehört, spielte noch Mitte der 1980er Jahre eine
Bühnenrolle als Drogenhändler – für umgerechnet 700 Euro
die Woche.
Interviews mit Robert de Niro sind so selten wie ein Sechser im Lotto. Im Gegensatz
zur Garde des alten Hollywood versteckt sich der Vater von sechs Kindern , die
er übrigens auf vier verschiedene Mütter verteilt hat („Kinder
sind alle Mühe und jede Anstrengung wert.“), vollständig hinter
seinen Rollen – „die sind viel interessanter als meine Person.“
Wenn er sich allerdings auf ein Gespräch einlässt, wirkt er sehr aufgeräumt,
spielt Filmszenen vor und grinst sein verschlagenes Grinsen, dass schon diverse
seiner von ihm interpretierten (Film-)Psychopatheten mit unwiderstehlichen Charme
ausstattete. Zu seinen wenigen wirklichen Freunden gehören Kollege Al Pacino
und sein Lieblingsregisseur Martin Scorsese. Er läßt sich entlocken,
dass er sich aussuchen darf, wer an seiner Seite in Filmen mitwirkt; dass er
farbige Frauen meist attraktiver als weißhäutige findet, was ihm
den Spitznamen „coal miner“ einbrachte; dass er gern unerkannt reist
– und vor lauter Schüchternheit jedesmal „sofort das Weite
sucht“, wenn ihn irgendwelche Menschen irgendwo erkennen. Er ist eben
jemand, der beides bis zur Neige auskosten will: Seine Rollen und sein Privatleben.
Angesprochen auf seine Verwicklung in eine Call-Girl-Äffäre, während
derer Ermittlungen er kurzzeitig im Februar 1998 in Paris festgenommen wurde,
verschwindet das berühmte Grinsen aus seinem Gesicht. „Kein Kommentar“,
heißt es lapidar. Lieber will er über das Wesen der Schauspielkunst
sprechen. Als cineastische Anekdote gibt er zum besten, dass Robin Williams
ihm versehentlich bei den Dreharbeiten zu „Zeit des Erwachens“ die
Nase gebrochen hätte: „Das war zwar schmerzhaft, aber praktisch.
Denn ich hatte meine Nase schon mal gebrochen, und sie war schief zusammengewachsen.
Jetzt ist sie wieder gerade“ – und schon lächelt er wieder.
Als seine gelungenste Rolle bezeichnet er selbst den eifersüchtigen Brudermörder
aus Roland Joffés Abrechnung mit den Ränkespielen zwischen Vatikan
und den spanisch-potugiesischen Kolonialreichen „Mission“ (1986).
Aus Reue und um Buße zu tun, geht er zu den Jesuiten im südamerikanischen
Regenwald. In ekstatischer Selbstkasteiung schleppt der arme Sünder aus
dem 18. Jahrhundert seine zentnerschwere Rüstung aus Leder und Eisen in
einem Sack über die Klippen am Rande eines Wasserfalls zu einer hochgelegenen
Indianersiedlung. Er stolpert im Schlick, fällt, rutscht glitschige Hänge
hinunter. Aber er gibt nicht auf, schleppt sein nutzloses Bündel, als müsse
er alle Sünden dieser Welt abbüßen. Und als er schließlich
am Ziel ist und erschöpft niedersinkt, tritt ein Indio hervor, kappt den
Strick und schubst den Sack in die Tiefe. Eine Szene von ergreifender Tragikomik.
De Niro spielt sie, wie sie nur de Niro spielen kann: Er lacht, er weint, abwechselnd
und gleichzeitig. Sein Gesicht drückt gänsehauterregend all die Traurigkeit
und Lächerlichkeit dieses Sisyphus in Nahaufnahme aus. „Rober de
Niro is waiting“ hieß vor fast 20 Jahren ein Sommerhit des weiblichen
Pop-Trios Banamarama. Die weltweite Verehrerschar des begnadeten Schauspielers
wartet nach schwächeren, jüngeren Produktionen wie „The Fan“
(1996), „Makellos“ (1999), „Men of Honor“ (2000) und
„Showtime“ (2001) ebenfalls wieder auf eine große Rolle jenseits
aller Effekthascherei wie in „Die durch die Hölle gehen“ oder
„Mission“ Bis dahin kann man sich die Zeit des Wartens mit dem wiederholten
Ansehen seiner älteren Meilensteine aufs köstlichste vertreiben.
Marc Hairapetian
Die Interviewauszüge stammen aus Gesprächen, die der Autor mit
Robert de Niro geführt hat.