Der Opernregisseur Boris Pokrowski:
die Wahrheit des menschlichen Geistes

Wenn ich Monarch oder Präsident wäre, würde ich alles außer Oper für drei Tage verbieten. Nach drei Tagen wacht die Nation erfrischt, intelligent, weise, reich, satt und lustig auf. Ich sage das nicht, weil ich ein Diener der Oper bin und mich für die Oper einsetze, sondern weil ich daran glaube.
Oper ist gerade darin gut, dass sie Gedanken hervorbringt. Oper ist die Schönheit und die Weisheit der Menschheit, alle großen Kunstarten sind in ihr verbunden. Und die Menschen retten sich mittels großer Kunst. Oper ist eine Medizin, um die Menschen zu heilen.
Boris Pokrowski

Von Dr. Anna Fortunova

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Falls einmal jemand auf die Idee kommen sollte, ein “Lexikon der außergewöhnlichsten Menschen aller Zeiten“ zusammenzustellen, dem russisch-sowjetischen Opernregisseur Boris Pokrowski (1912-2009) würde darin auf jeden Fall ein großes Kapitel gebühren. Als Anhänger der Stanislawski-Methode, Kollege und/oder Freund fast aller bedeutenden russischen Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts, Bewahrer der theatralischen Tradition des 19. und Neuerer der Kunst des 20. Jahrhunderts (der sich im Herbst des Lebens als „Konservator“ bezeichnete, aber mit 80 (!) eine der provokativsten Opern aller Zeiten, nämlich Alfred Schnittkes „Das Leben mit einem Idioten“ auf die Bühne brachte), der auch im 21. Jahrhundert immer noch tätig war, war Boris Pokrowski als Mensch ein einzigartiges Phänomen. Er hat als Regisseur mit 25 Jahren angefangen und danach nie aufgehört. Er hat in den etwa 70 (!) Jahren seiner Karriere über 180 (!) Opern auf der ganzen Welt zur Aufführung gebracht: in Berlin, Leipzig, Wien, Amsterdam, Budapest, Prag, Sofia, Venedig, Verona, Tokio...

Er hat viel erlebt, ist aber ein leidenschaftlicher Mensch und Künstler geblieben, der immer wieder bereit war zu neuen Experimenten. Seine Freundschaft und seinen Rat zu bekommen galt als eine Ehre für seine jungen und namhaften Kollegen. Beispielsweise kam der Leipziger Regisseur, Intendant und Schauspieler Karl Kayser jedes Jahr nach Moskau, um etwas von Pokrowski zu lernen. Man nannte ihn auch den „Michelangelo der Oper“. Er war unendlich weise, galt für alle als ein wandelndes Lexikon. Und gleichzeitig war er ein bescheidener Mensch, der sich im Vergleich mit den großen Komponisten ohne zu kokettieren als „Pygmäe“ bezeichnete. Er liebte sein Beruf sehr, hat der Oper sein Leben gewidmet und arbeitete ungeheuer viel. Seine Regie war sehr exakt. Er war gleichzeitig ein sehr engagierter Lehrer, Professor an der Akademie der Künste in Moskau und schrieb viele Bücher, deren Bedeutung für die Opernregie nicht zu unterschätzen ist.

Sein ganzes Wesen hat Liebe und Herzensgüte ausgeströmt; Liebe zu den Menschen, zur Kunst, zum Leben, zur Natur... Und er war ein sehr dankbarer, sehr anständiger und sehr ehrlicher Mensch. Seine Talente wie Kultur, Charakter, Zielstrebigkeit, Leistungsfähigkeit, Kompromisslosigkeit, Ergebenheit für sein Lebenswerk, Vergötterung der großen Kunst, Humor, Furchtlosigkeit waren jedem, der ihn kannte, bekannt. Alle guten Eigenschaften, die in einem Menschen nur sein können, waren in ihm konzentriert. Sein Leben war ein hoher Dienst an der Menschheit durch die Kunst der Oper, die seine Liebe und sein Leben bedeutete. Eines seiner Bücher heißt: „Oper ist mein Leben“.

Ich hatte das große Glück, dieses Genie persönlich kennenzulernen. Er war schon 96 Jahre alt, arbeitete aber immer noch als Hauptregisseur und künstlerischer Leiter des Kammermusiktheaters, das er im Jahr 1972 gegründet hatte. Wir verabredeten uns für ein Interview bei ihm zuhause, und ich fuhr nach Moskau. Er konnte leider schon damals sehr schlecht hören und gehen und fast nicht mehr sehen. Als er kam, sagte er: „Meine Liebe, wissen Sie, ich bin seeehr alt, ich höre nichts, ich sehe nichts und ich habe schon alles vergessen, ich kann mich an nichts mehr erinnern“. Das letzte war natürlich nicht wahr, sondern nur Schau. Er hatte ein hervorragendes Gedächtnis und erzählte so spannend, dass man ihm ewig zuhören konnte. Das Interview hat zweieinhalb Stunden gedauert und endete erst, als seine Frau, die Sängerin Irina Maslennikowa (sie sang in den 40er und 50er Jahren im Bolschoi Theater) sagte, dass nun Schluss sein müsse, weil es für ihn zu anstrengend sei. Er war traurig, wollte eigentlich noch weiter erzählen, hat aber doch auf seine Frau gehört. Anschließend haben wir ein Foto gemacht, und Irina Maslennikowa schenkte mir zum Abschied ein paar Mandarinen... Das war mein erstes und letztes Treffen mit einem der größten Menschen unserer Zeit, für das ich dem Schicksal unendlich dankbar bin und immer unendlich dankbar sein werde.



Spirit - Ein Lächeln im Sturm: Sehr geehrter Boris Alexandrowitsch (Herr Pokrowski), ich bedanke mich herzlich, dass Sie Zeit gefunden haben, um dieses Interview zu geben. Sie haben eine enorme Lebens- und Berufserfahrung. Gibt es für Sie immer noch etwas in den Menschen, was Sie in Verwunderung versetzt? 

Boris Pokrowski: Begabte Menschen erstaunen mich, die Menschen, die etwas in der Kunst, in der Wissenschaft, in der Technik, in der Arbeit erreichen. Beispielsweise, wenn jemand den Hof kehrt, so ist er für uns vielleicht nicht im Sinne eines Intellektuellen interessant, aber ich mag, dass er etwas Gutes für die Welt tut.

Spirit - Ein Lächeln im Sturm: Sie schreiben und reden oft über den Charme. Was bedeutet Charme für Sie?

Pokrowski: Wenn ein Mensch viel Charme besitzt, möchte man ihm zuhören, möchte man ihm glauben. Mangel an Charme ist zwar eine kleine Unannehmlichkeit, aber wenn jemand gut ist, kann er das überwinden, wenn er in der Kommunikation angenehm und unentbehrlich sein möchte. Attribute wie gut, notwendig, wertvoll finde ich im Leben am wichtigsten. Mit einem Menschen kann ich gut plaudern, mit einem anderen nicht... Obwohl das natürlich nicht heißt, dass ein Mensch kein charmanter Mensch ist, wenn er meine Meinung nicht mag. Solange ich auf der Welt lebe, bleiben solche Seiten des Lebens wie Charme für mich immer noch ein Geheimnis.

Spirit - Ein Lächeln im Sturm: Ihre Studenten und Ihre Kollegen sagen oft, dass Sie viel Humor haben. Benutzen Sie ihn absichtlich – als Methode im Unterricht, in der Kommunikation?

Pokrowski: Na ja, ich habe mit meinem Humor nie geprahlt, ich habe ihn nie absichtlich benutzt, obwohl Sie Recht haben, dass die Schauspieler, mit denen ich gearbeitet habe, und meine Studenten sich daran erinnern. Ich freue mich, das zu hören, aber ich sehe und höre in mir keinen Humor, und wenn es mir mal gelingt, dann geschieht das irgendwie von selbst. Ich kann auch nicht beantworten, worin mein Humor besteht. Es scheint mir, dass ich im Leben eigentlich nicht besonders witzig bin.

Spirit - Ein Lächeln im Sturm: Wenn Sie mal eine ungerechte Meinung über Ihre Arbeit hörten, was half Ihnen dann?

Pokrowski: Mein Charakter half mir. Ich hatte natürlich Misserfolge, Unannehmlichkeiten. Wenn ein Mensch zu mir ungerecht war, half mir mein Charakter, das zu vergessen, das quasi zu verschleiern, kein voreiliges Urteil über diesen Menschen zu fällen. Ich erinnere mich nicht an das Böse, beziehungsweise ich erinnere mich doch, aber das zu äußern ist mir peinlich, sozusagen anstößig. Das Wort „anstößig“ hatte meine Mutter oft benutzt. Und dieses Gefühl, dass es „anstößig“ ist, so etwas zu machen, ist in mir bis ins Alter geblieben.

Spirit - Ein Lächeln im Sturm: Wenn Sie Misserfolge hatten, was half Ihnen, sich wieder sicher zu fühlen und immer weiter zu machen? Was halten Sie von Ihren Fehlern?

Pokrowski: Wenn mir etwas nicht gelungen ist, begriff ich, dass ich das so nicht machen konnte, dass man es anders machen musste, aber wie? Darüber muss man nachdenken. Ich war immer streng mit mir, ich habe keine Entschuldigungen gesucht, obwohl ich sie manchmal mit der einen oder anderen Absicht finden konnte. Ich achte im Leben überhaupt wenig auf mich, wie ich arbeite, probe, schreibe... Ich kann mich nicht einschätzen und überschätzen kann ich mich erst recht überhaupt nicht. 

Spirit - Ein Lächeln im Sturm: Was ist die Wahrheit in der Kunst? Inwiefern ist sie objektiv? Oder hat jeder Künstler seine Wahrheit? Sie selbst haben sie einmal als „Gottheit“ bezeichnet, als Sie über die Verantwortung des Künstlers für die Wahrheit der Kunst sprachen.

Pokrowski: Was in der Kunst gut ist, kann im Leben schlecht sein. Die Gestalt in der Kunst ist nicht das, was wirklich im Leben geschieht. Lenski ist verliebt – das ist die Gestalt. Aber ist das tatsächlich passiert? Nein. Die Wahrheit der Kunst ist für mich eine sehr komplizierte Sache. Entweder glaubst du daran oder nicht. Wir bezeichnen die Kunst gern als „einen Teil des Lebens“, aber das ist sehr relativ. Die Schauspieler handeln nicht wie im Leben, sie machen das, was geschrieben steht, und geschrieben steht, was irgendwann einmal ausgedacht wurde; das sind immerhin unterschiedliche Dinge. Manchmal singt der Sänger nichts, guckt nur ein Loch in die Luft, aber ich glaube ihm, weil er so handelt. 

Und im Leben ist es so: Ein guter Mensch denkt oft daran, wie er einen anderen Menschen möglichst nicht kränkt. Es kann sein, dass es Ihnen sehr schlecht geht und Sie es sehr schwer haben. Jemand hat Ihnen etwas Böses angetan. Und Sie möchten davon erzählen. Gerade dann ist es sehr wichtig, sich zu fragen: wofür? Es ist eine Sache, dass man etwas macht, und eine andere Sache, wozu man es macht. Ein Schauspieler muss – der Wahrheit der Kunst zuliebe – auf die Fragen antworten: Was mache ich? Wofür mache ich das? Wie mache ich das? So etwas gibt es auch im Leben: wir handeln, aber wozu? Für einen guten Zweck oder nicht? 

Aber das Leben ist eine komplizierte Sache, ich kann es nicht enträtseln, und ich habe auch nicht vor es zu enträtseln. Gedanklich gehe ich in eine Oper. In den echten Kunstwerken ist alles richtig erschaffen, dann kann man daran glauben. Und wenn dort etwas falsch ist, dann glauben wir nicht und mögen so ein Kunstwerk auch nicht. 

Spirit - Ein Lächeln im Sturm: Wie arbeiten Sie mit der Musik?

Pokrowski: Am Anfang öffne ich den Klavierauszug (nebenbei gesagt, als ich noch klein war, haben meine Eltern mich zu der bekannten Klavierlehrerin Elena Gnessina in Moskau geschickt. Damals versuchte ich, manchmal etwas mit einem Finger, manchmal mit zwei Fäusten zu spielen). Ich spiele die Musik auf dem Klavier, und sie erzählt mir, was in diesem Moment mit der menschlichen Seele passiert. Wenn der Bühnenheld beispielsweise etwas Böses tut, aber die Musik dagegen rührend ist, dann muss ich verstehen, was in diesem Held vorgeht, dass sein Charakter ambivalent ist. In der Oper erklärt die Musik dem Regisseur die Handlung. Dieser Prozess ist gar nicht so einfach, dass ich das erzählen kann. Ich bin nur ein praktizierender Musiker. Jeder kann Musik lieben, aber man muss sie außerdem auch erlernen. Wenn es bespielweise einen Wechsel der Tonart gibt, muss auch etwas auf der Bühne passieren. Die Musik wird durch die Handlung der Oper geboren und die Handlung auf der Bühne wird durch die Musik geboren, wird quasi durch sie beleuchtet. 

Spirit - Ein Lächeln im Sturm: Sie kannten Konstantin Sergejewitsch Stanislawski persönlich. Erzählen Sie bitte von ihm.

Pokrowski: Stanislawski hatte seine Methode, die sich nicht nur auf Regiearbeit, sondern auch auf das Allgemeinmenschliche bezog, er konnte erklären und die Gedanken der Schauspieler in die eine oder andere Richtung lenken. Dies ist eine große Leistung, die Beherrschung seines Berufes. Für mich ist Stanislawski ein großer Regisseur, sein Leben in der Kunst ist ein Beispiel, wie man arbeiten soll, wie man die Kunst achten und lieben soll, wie man der Kunst dienen soll.

Es wird jetzt viel über seine Methode diskutiert. Man kann sich auf sie unterschiedlich beziehen. Es erscheinen viele Aufführungen, die seiner Methode quasi widersprechen. Natürlich, wenn Stanislawski jetzt leben würde, würde er bestimmt etwas Neues entdecken. Obwohl es nie sein Ziel war, immer nur auf ‚Neuerertum‘ aus zu sein. Man soll nach Wahrheit der Dramaturgie, Wahrheit der Kunst, Wahrheit des menschlichen Geistes streben. Nicht allen Regisseuren und Schauspielern gelingt das. Der Regisseur soll keine Aufführung machen, wenn er nicht das Stück oder die Oper selbst, sondern lediglich seine eigene Vorstellung von diesem Stück vor Augen hat. Man darf die Ideen des Autors nicht verdrehen. Da ist es sehr wichtig, sich selbst zu sagen: ‚Das geht nicht! Verboten!‘. Ich würde sogar sagen, dass es eine Schande ist, so etwas auf der Jagd nach etwas ‚Neuem‘ zu tun, obwohl Betrug auch manchmal Erfolg haben kann.

Jeder hat Anspruch auf ein gewisses ‚Neuerertum‘, aber es ist wichtig, wohin es führt. Eine Entstellung der Klassik ist eine unzulässige Gemeinheit, fast ein grober Unfug. Das äußert sich darin, dass man auf jeden Preis etwas machen möchte, was niemand zuvor gemacht hat. Beispielsweise zieht sich ein Priester auf der Bühne plötzlich die Hose aus und geht in Unterhosen in den Theatersaal. Das kann unterschiedliche Eindrücke hervorrufen. Vielleicht gäbe es Menschen, die das mögen würden. Aber wenn ein solches ‚Neuerertum‘ gar nichts mit der Dramaturgie des Stücks zu tun hat, finde ich so etwas unzulässig (wie im Leben: Man kann ruhig auf der Straße spazieren gehen, aber auch jedem ins Gesicht spucken und Unfug treiben). So ist Stanislawskis ‚Neuerertum‘ nicht. Ich erinnere mich, dass seine Regie ein ehrliches und tiefes Durchdringen der Dramaturgie des Stücks war. Wenn ein Regisseur nur äußere Effekte erschafft, um Erfolg zu haben, dann ist das keine Kunst, sondern nur Spielerei und keiner Besprechung wert. Ich persönlich mag das nicht nur nicht, ich kann das auch gar nicht machen, ich kann die Werke nicht verdrehen, in denen ich mich als Regisseur verwirkliche; ich muss das auf neue Weise auf die Bühne bringen, was schon in der Musik angelegt ist. Für mich ist das zwingend, da ich die Oper als große Kunst schätze. Aber natürlich man kann das alles auch anders betrachten, andere Sachen postulieren. Wahrscheinlich gibt es in der Kunst keine Gesetze, denen man militärisch folgen müsste.

Spirit - Ein Lächeln im Sturm: Aber wenn man die Gesetze der Kunst nicht beachtet, dann wird es keine Kunst, sondern grober Unfug, wie sie es nennen. Oder?

Pokrowski: Ja. Aber immer findet sich ein Mensch, der fragt: ‚Wo sind diese Gesetze geschrieben?‘ Wenn beispielweise Raffael an seinen Gemälden arbeitete, dachte er nicht an die Gesetze der Kunst. Er malte, was er in seinem Herzen hatte, und dachte sich nicht einem Skandal oder Erfolg zuliebe etwas aus. Aber ich möchte niemanden beschuldigen, weil ich das nicht kann, das nicht können möchte und mir das nicht erlauben kann. Musik bietet uns einen Zugang zum Wesen des menschlichen Geistes, den Charakter des Menschen, was er denkt, womit er beschäftig ist, was er im Herzen hat. Wir sollen darauf mit dem Herzen hören, dann werden unsere Werke auch nicht umsonst existieren. Ich finde, dass das Drama und besonders die Oper große Kunst sind, da sie uns, wie gesagt, das Wesen des menschlichen Geistes eröffnen. Der Menschheit ist nichts teurer als das. Wir müssen das schätzen, entwickeln, beobachten, dieses Phänomen unserer Kultur bewundern.

Spirit - Ein Lächeln im Sturm: Sie haben auch sehr viel mit modernem Repertoire gearbeitet. Fällt Ihnen das schwerer?

Pokrowski: Wir haben mit klassischen und modernen Opern gearbeitet, mit allen, die wahre Kunstwerke sind. Es ist für mich nicht schwerer, mit modernen Opern zu arbeiten, weil sie von Zeitgenossen geschrieben wurden, das heißt, dass dort die Gesetze des modernen Denkens herrschen. Diesen Gesetzen ordnen sich der Regisseur und der Schauspieler ganz natürlich unter. Mit Shakespeare oder Bulgakow, mit Tschechow oder Puschkin muss man immer unterschiedlich arbeiten. Aber wir müssen eng beim Autor bleiben, ihn erforschen und ihm dienen. Die Regisseure müssen das umsetzen, was in der Dramaturgie und in der Musik angelegt ist.

Spirit - Ein Lächeln im Sturm: In Boris Pasternaks Gedicht „Die Nacht“ gibt es diese Zeilen:

Schlafe nicht, schlafe nicht, Künstler,

Fröne nicht dem Schlaf.

Du bist eine Geisel der Ewigkeit

In der Gefangenschaft der Zeit.

Wie verstehen Sie sie?

Pokrowski: Die Zeit bestimmt die Pflicht der Künstler. Wir müssen unserer Zeit dienen. Jetzt haben wir viele Möglichkeiten, uns mit Hilfe der Kunst die Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Wenn die Kunst von gestern ist, heißt das nicht, dass sie schon veraltet ist. Das ist große Kunst! Ich kann mich natürlich irren, aber ich bin davon überzeugt, dass die Kunst des Altertums für ihre Zeit sehr wichtig war. Wir können etwas von den unterschiedlichen Völkern und Zeiten lernen, forschen, achten, schätzen, wir haben etwas, worauf wir auch stolz sein können. Einige Menschen mögen nur etwas Modernes, weil es innovativ ist. Die echte Kunst ist aber immer echte Kunst. Shakespeare ist Shakespeare, und es ist egal, ob wir ihn heftig kritisieren, wir würden dadurch keinem beweisen können, dass Shakespeare kein Genie ist. Shakespeare ist ein Genie! Aber er war auch in seiner Zeit gefangen, wie auch Tschechow, Puschkin und Gorki. Vielleicht denken einige moderne Regisseure, dass, wenn es nicht erlaubt ist auf der Straße nackt zu laufen, sie das auf der Bühne machen können und es so eine Entdeckung sein wird ... Vielleicht wird das auch eine Entdeckung sein, weil es so etwas noch nie gegeben hat. Und es muss es auch nicht geben! Ich persönlich schätze die Kunst, die vor uns war, als große und heilige Kunst. Es gibt keine alte Kunst! Es gibt nur Kunst und KEINE Kunst, Pfuscherei! Es gibt auch keine innovative Kunst. Wir alle schätzten Wsewolod Meyerhold als einen innovativen Regisseur. Aber jetzt möchte ich ihn so nicht nennen, sondern nur sagen, dass er ein großer Regisseur war. 

Ich erinnere mich gern daran, dass Stanislawski und Meyerhold sich gegenseitig sehr geachtet haben, obwohl ihre Regiemethoden ganz unterschiedlich waren. Aber Stanislawski wusste, dass Meyerhold ein Genie war, und Meyerhold wusste es von Stanislawski gleichermaßen. Man soll erkennen können, wer würdig ist, als beispielhaft in der Kunst zu gelten, und wer es verdient vergessen zu werden. 

Spirit - Ein Lächeln im Sturm: Was würden Sie jungen Menschen empfehlen, die sich einen künstlerischen Beruf ausgesucht haben?

Pokrowski: Ich denke, dass jeder Schriftsteller, Dichter oder Regisseur selbst verstehen beziehungsweise spüren soll, dass es für ihn oder für sie notwendig ist, in der Kunst zu arbeiten, das sollte ein Bedürfnis sein. Der Mensch sollte sich in seine Arbeit verlieben. Es ist nur ein Schritt von der Liebe zum Erfolg, dann wird er oder sie groß und berühmt sein. Es ist wichtig, dass der Mensch sich etwas Hohem hinwendet. Hinwendung, Wissen, Erforschen des eigenen Faches sind die wichtigsten Aufgaben des Menschen. Wer er letztendlich sein wird, liegt in seiner eigenen Natur begründet. Sie gibt ein Zeichen, und man muss nur darauf achten. Wissen Sie, als ich noch ein Junge war, hatte ich keine Ahnung, dass ich ein Regisseur werden würde, ich wollte nur mit den anderen Jungs laufen und manchmal die anderen schlagen. Aber dann sorgte die Natur dafür, dass ich ein Opernregisseur wurde.

Oder es arbeitet beispielsweise ein Mensch als Ingenieur. Und ‚plötzlich‘ spürt er, dass er ein Dramaturg sein möchte, dass er Theaterstücke schreiben will. Und dieses ‚plötzlich‘ ist ja gerade ein Zeichen und ein Befehl des Schicksals. Vielleicht hatte er bis zu einem gewissen Alter, zum Beispiel bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr, davon noch nichts geahnt. Vielleicht ist meine Meinung sehr primitiv und sehr veraltet, aber ich glaube, wenn ein Mensch begabt ist, seinen Beruf liebt und seine Arbeit gut organisiert hat, dann hat er ein glückliches Schicksal und sein Schaffen wird für die Menschen von großer Bedeutung sein.


Wir haben nur ein Gesetz – das Gesetz der Wahrheit und der Schönheit. Und dieses Gesetz ist immer neu und unerschöpflich. Und was ist das Wahrhaftigste und das Schönste in der Kunst? Das ist das Leben des menschlichen Geistes, wie Stanislawski lehrte.
Boris Pokrowski

Das Gespräch führte Anna Fortunova in der Wohnung von Boris Pokrowski in Moskau am 30. Januar 2008.