„Die
Nachwelt flicht den Mimen keine Kränze.“ Im Fall von Will Quadflieg,
der letzten Donnerstag 89jährig starb, macht sie eine Ausnahme. Er hat
gleichzeitig Theater-, Film- und Fernsehgeschichte geschrieben. Ob als Faust
in der legendären Gründgens-Inszenierung (1957/58), die als Filmaufzeichnung
um die Welt ging, ob als Franz List in Max Ophüls opulentem Cinemascope-Reigen
„Lola Montez“ (1955) oder im Mehrteiler „Der große Bellheim“
(1993). Hier wie dort kam das Spiel des am 15. September 1914 in Oberhausen
geborenen und bis zuletzt bei Bremen lebenden Akteurs einem Einbruch des Menschlichen
ins Theatralische gleich. Die Vermählung von intensivster Ausdruckskraft
in Gestik wie Mimik und kontrollierter Leidenschaft prägte auch seine Kunst
als Rezitator. Seinem Charisma konnte man sich selbst in seinen seltenen Interviews
nicht entziehen.
Herr Quadflieg. Kurz vor ihrem 85. Geburtstag haben Sie Ihren Abschied von der
Bühne bekannt gegeben. Stimmt es, dass Sie jetzt, wo Sie vor dem 90. stehen,
künftig nur noch Rezitationen geben werden?
Will Quadflieg: Die Poesie war seit je mein zweites Standbein. Ein Rezitator
kann das Wort viel wirksamer vermitteln als ein Schauspieler. Auf der Bühne
gibt es allzu viel, das vom erfassbaren Sinn ablenkt: Kostüm, Maske, Bühnenbild.
Sie habe mit zahlreichen Intendanten zusammen gearbeitet. Welcher war Ihnen
der angenehmste, welche Wirkungsstätte die liebste?
Quadflieg: Jürgen Flimm und das Thalia-Theater. Wir blicken auf eine weite
Strecken gemeinsamen Weges zurück. Das Thalia-Theater hat mir von den achtziger
Jahren an eine neue künstlerische Heimat gegeben. In Flimms Abschiedsinszenierung
von Tschechows „Drei Schwestern“, deren Premiere am 4. Dezember
1999 stattfand, war es mir eine große Ehre nochmals auf der Bühne
zu stehen.
Obwohl Sie sich im modernen Rollenfach ebenfalls Meriten erworben haben, gelten
Sie vor allem als Interpret der Klassik.
Quadflieg: Ja, ich, kann es nicht verhehlen. Neben Goethe ist Lessing einer
der großen deutschen Geister, die ich am meisten verehre: Er war ein Mann
mit Zivilcourage. Wir leben in einem Land, wo die Zivilcourage wieder einen
Rückzug zugunsten einhelliger Angepasstheit antritt. Deshalb sind seine
Stücke besonders wichtig. Es sind die großen heiligen Märchen,
die wir auf der Bühne zu vertreten haben, damit vielleicht ein Mensch von
denen, die drinnen sitzen, sagt: „Vielleicht solltest du ein bisschen
Nutzanwendung für dein eigenes Leben herausziehen!“
Sie sind selbst ein sehr couragierter Künstler und engagieren sich unter
anderem für den Tierschutz.
Quadflieg: Im Wesen, wie wir mit Tieren umgehen, äußert sich dasselbe
wie in unserem Umgang mit Menschen. Tiere sind von einer unglaublichen Duldungsfähigkeit
uns Menschen gegenüber, allen voran Hunde und Katzen, mit denen ich mich
selbst ein Leben lang umgeben habe.
Sie sind der strahlendste Fixstern ganzer Generationen von Schauspieler-Eleven.
Welche Vorbilder hatten Sie selbst am Anfang Ihrer Karriere?
Quadflieg: Zum einen Josef Kainz, zum anderen das viel zu früh verstorbenen
Berliner Theateridol Horst Caspar, mit dem ich brüderlich befreundet war.
Manchmal machten wir uns einen Jux und tauschten kurzfristig die Rollen. Die
Totenrede auf seiner Gedenkfeier zum Jahreswechsel 1952/53 zu halten, war wohl
einer der schwersten Momente in meinem Leben, zumal wenige Tage später
noch sein kleiner Sohn starb. Kainz und Caspar waren überragende Sprecher,
bei Horst kam noch die adelige Reinheit der Seele hinzu. Den konnte man nicht
kopieren. Da konnte man manchmal nur staunend daneben stehen. Mit seiner Frau,
der wunderbaren Antje Weisgerber, spielte ich oftmals auf der Bühne und
im Film. Ohne andere Kolleginnen herabsetzen zu wollen: Ihre Anmut und Würde,
die sie sich trotz schwerer Schicksalsschläge bewahrt hat, sind bis ins
hohe Alter einzigartig.
Max Ophüls letzter Film über das skandalöse Leben der Tänzerin
„Lola Montez“ führte die beiden damals größten deutschsprachigen
Theaterstars zusammen. Wie sind Sie mit dem als kompromisslos geltenden Oskar
Werner ausgekommen?
Quadflieg: Da muss ich Sie leider enttäuschen. Wir sind uns nie persönlich
begegnet, da wir unterschiedliche Drehtage hatten. Was seine Darstellungskunst
angeht, war er zweifellos ein Genie, das die Gesetze der Schwerkraft, die für
uns übrige Menschen gilt, nicht kannte. Die Deutsche Grammophon brachte
auch eine gemeinsame Platte mit Rilke-Rezitationen von uns heraus, bei der wir
in unterschiedlichen Studios vor den Mikrophonen standen. Er in Paris, weil
er als Wiener Deutschland nicht sonderlich mochte, ich in Hamburg. Er las die
„Christus-Visionen“, ich den „Cornett“, der seine eigentliche
Spezialität war. Später einmal habe ich seine Version davon gehört,
die mir ehrlich gesagt, besser gefiel. Schade, dass er am Ende dem Suff so verfallen
war.
Unzählige Heldenfiguren wurden von Ihnen auf der Bühne und im Film
verkörpert.
Gibt es für Sie auch eine Gestalt der Wirklichkeit, der Sie Verehrung entgegenbringen?
Quadflieg: Ja, es gibt einige. Janusz Korczak etwa, der polnische Lehrer, der
mit seinen jüdischen Kindern in die Gaskammer ging.
Sie selbst haben sich immer wieder Ihrer „entsetzlichen Mitläuferrolle“
im Dritten Reich angeklagt. Sehen Sie heute noch Gefahren eines deutschen Rassismus?
Quadflieg: Gerade im Deutschen sind so viele rassisch-hybride Züge zwischen
Philosemitismus und Antisemitismus vorhanden. Wenn ich jetzt schon wieder diese
neonazistischen Ungeheuer sehe, nach allem, was wir angerichtet haben, in Auschwitz
und anderswo... Ich weiß nicht, was in der Seele des deutschen Volkes
so kaputt ist, dass es nicht mehr klar denken kann. Es ist politisch manchmal
so unmündig, dass man, verzeihen Sie bitte, nur verzagen kann.
Was ist Ihnen am meisten zuwider?
Quadflieg: Sentimentalität, denn sie ist der Todfeind des echten Gefühls.
War in dem Theaterstar jemals das Verlangen, jemals ein großer Filmstar
zu werden?
Quadflieg: Wissen Sie, ich war mal Filmstar, vor, im und kurz nach dem Krieg.
Das reizt mich wirklich nicht. Sie geraten in eine Art Propagandamühle
hinein und werden ausgewertet wie ein Futterpaket!
Was bedeutet für einen ungebrochen klaren Geist das voranschreitende Alter?
Quadflieg: Zum Älterwerden gehört wohl auch das Vereinsamen. Man muss
daher bestrebt sein, sich größeren geistigen Kräften anzuschließen.
Wie?
Quadflieg: In dem man die richtigen Dichter liest. Da ich sehr viel als Rezitator
arbeite, bin ich glücklicherweise gezwungen, mich mit ihren Werken zu beschäftigen.
Bücher und Bibliotheken stehen verstaubt, und die Menschen verblöden
vor dem Fernseher. Eine Katastrophe überstürzt die andere, so dass
wir gar nicht mehr dazu kommen, die Entsetzlichkeit der Ereignisse zu empfinden.
Was gibt Ihnen jenseits der Kunst noch Kraft im Leben?
Quadflieg: Meine Familie und Freunde. Die Zeit vergeht so schnell. Für
die paar Tage, die man noch hat, sollte man der Verpflichtung folgen, sein Leben
mit leidlichen Sinn zu füllen.
Das Interview führte Marc Hairapetian, der Will Quadflieg von 1987 bis
kurz vor seinen Tod mehrfach zu Gesprächen traf.