„Der gegenwärtigste Film, den man überhaupt machen kann“

Bei seiner gestrigen Weltpremiere im Berliner Filmpalast beeindruckte, berührte und erschütterte das neueste Werk der Brüder Taviani das Publikum. Der türkische Völkermord an den Armeniern wird in „La masseria delle allodole“ („The Lark Farm“/“Das Haus der Lerchen“) in all seiner Grausamkeit aufgegriffen wie bei noch keinem Film zuvor. „Tränen sind nicht genug.“, meinte die armenische Hauptdarstellerin Arsinee Khanjian nach der Vorführung, die Anerkennung des Völkermordes durch die Türkei wäre längst überfällig. Darin waren sich alle Beteiligten einig. Ein Gespräch mit den lebenden Regie-Legenden Vittorio und Paolo Taviani über ihre Verfilmung von Antonia Arslans Bestseller „La masseria delle allodole“.


Von Marc Hairapetian

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Wie sind Sie als Italiener zu dem Thema
Völkermord an den Armeniern gekommen?

 

Vittorio Taviani: Wir wussten natürlich schon im Vorfeld etwas über den Völkermord an den Armeniern. Wir fühlten uns aber schuldig, denn wir glaubten Bescheid zu wissen, doch wir kannten die ganze Wahrheit nicht. Und als wir das Buch „La masseria delle allodole“ von Antonia Arslan lasen, da enthüllte sich ganz plötzlich eine Welt von Schmerz, von Ungerechtigkeit, und uns gingen wirklich die Augen auf. Danach haben wir uns aber auch in unserer eigenen Wirklichkeit umgesehen. Wir haben uns mit diesen schrecklichen Kriegen der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit auseinandergesetzt. Nehmen wir Kosovo oder Ruanda oder was heute in Asien und Afrika passiert. Wir glauben, es gibt keine schlimmeren Kriege, als solche wie zwischen Völkern, die eigentlich einander nahe stehen. Und wir sagten uns, dass wir uns vielleicht mit unserem filmischen Schaffen diesen Wirklichkeiten annähern sollten. Als wir das Buch von Antonia Arslan lasen, wurde uns klar, dass wir hier die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpfen konnten. Als wir den Film dann tatsächlich drehten, da hatten wir, aber auch die gesamte Truppe inklusive Schauspieler, den Eindruck, dass dies der gegenwärtigste und aktuellste Film sei, den man überhaupt machen könne.

 

War die Finanzierung schwierig? Der deutsche Produzent Ottokar Runze ist seit 20 Jahren bemüht, die Gelder für die Verfilmung von Franz Werfels Armenien-Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh“ zusammen zu bekommen. Auch Hollywood-Pläne, diesen Stoff umzusetzen, wurden immer wieder auf Eis gelegt, allerdings auch durch Druck von Seiten der Türkei.

 

Paolo Taviani: Das ist richtig, es war durchaus schwierig, das Budget für „La masseria delle allodole“ zusammen zu bekommen, deswegen ist es auch eine Koproduktion zwischen Frankreich, Spanien, Bulgarien und Italien geworden. Anderseits haben wir dadurch die Möglichkeit gehabt, wirklich frei auf dem europäischen Schauspielermarkt auszuwählen. Es ist kein Film über Italien, wo man vorwiegend einheimische Schauspieler genommen hätte. Uns hat es gefallen, dass wir mit den Schauspielern, die uns vorschwebten, unserer Fantasie ein Antlitz verleihen konnten, ob es nun die von Paz Vega verkörperte deportierte junge Armenierin Nunik oder den von Moritz Bleibtreu gespielten sich in sie verliebenden Youssouf handelt. Zu „Musa Dagh“: Das ist wirklich traurig, dass dieses Meisterwerk der Weltliteratur noch nicht verfilmt worden ist. Aber vielleicht schafft es ja jetzt Sylvester Stallone, der alle Hebel in Bewegung setzen will.

 

Waren alle Schauspieler erste Wahl?

 

Paolo Taviani: Wir bekamen alle, die wir wollten. Es war uns wichtig, auch eine echte Armenierin mit einer Hauptrolle zu besetzen. Arsinee Khanjian hatten wir in „Ararat“ gesehen und später in Eriwan getroffen, als dort eine Reihe mit unseren Filmen lief. Die bestmögliche Besetzung war eine rein künstlerische Angelegenheit.

 

„Der Spiegel“ schrieb ohne nähere Anhaltspunkte, dass Tumulte bei der Weltpremiere erwartet werden. Die blieben zum Glück aus. Doch haben Sie aus Angst davor deswegen die Berlinale-Pressekonferenz abgesagt?

 

Vittorio Taviani: Nein, wir hatten keinerlei Angst und haben auch deswegen nicht die Pressekonferenz abgesagt. Wir haben diesen Film als Ausdruck dieses bestimmten Augenblicks in unserem Leben gemacht, und wir werden den Film überall hin begleiten, welches Schicksal ihn auch immer erwarten mag. Diese Pressekonferenz wurde abgesagt, weil es Hakeleien zwischen den verschiedenen Pressebüros gab, aber auch weil wir uns um fünf Uhr morgens aus Italien aufgemacht hatten und einfach zu müde in Berlin ankamen. Wie Sie wissen, sind Paolo und ich nicht mehr die jüngsten.

 

Sie haben auch türkischen Journalisten Interviews gegeben. Wie haben diese den Film aufgenommen?

 

Paolo Taviani: Erstaunlich gut. Eine türkische Reporterin, mit der wir vor Ihnen gesprochen hatten, sagte wörtlich: „Dieser Film ist wichtig. Dieser Film soll gezeigt werden.“

 

Wann wird er in Italien gezeigt?

 

Vittorio Taviani: Am 23. März auf RAI 1. Auch Kinoverleiher sind international interessiert, so auch in Deutschland.

 

Wie intensiv waren Ihre Recherchen zur armenischen Geschichte und dem Völkermord?

 

Paolo Taviani: Wir haben bei unseren Recherchen vor allem zwei sehr wichtige Bücher gelesen, eines von dem bekannten italienischen Historiker Flores, wo es heißt „Der Völkermord an den Armeniern“, und das zweite von einem in Massesuchets lehrenden deutschen Historiker, der eher vom „Massaker an den Armeniern“ schreibt. Aber daneben hat uns Antonia Arslan mit viel Material versorgt. Wir haben auch selbst in Archiven und Bibliotheken geforscht. Allerdings: Wenn wir einen Film drehen, liegt uns nichts daran, einen historischen Aufsatz zu schreiben.

 

Würden Sie selbst das Wort „Völkermord“ benutzen?

 

Vittorio Taviani: Wir sind keine Historiker. Es obliegt uns nicht, hier den richtigen Begriff zu wählen. Für uns ist eine große Tragödie, eine der größten in der an Barbareien nicht armen Geschichte der Menschheit.

 

Ihr Film ist bis über die Schmerzgrenze hinausgehend grausam: Folter, Kastration und Enthauptungen kommen darin vor – vom Säugling bis zum Greis werden alle männlichen Armenier von den Türken massakriert. Dennoch befinden sich auch kammerspielartige Züge in „La masseria dello allodole“. Was war Ihnen wichtiger: Knallharter Realismus oder Stilisierung?

 

Paolo Taviani: Beides, aber wir wollen die Zuschauer natürlich wachrütteln. Außerdem ist es ja leider so gewesen. Am Anfang sind die armenischen Frauen bei der Deportation in ihren typischen Trachten mit den prachtvollen Farben zu sehen, aber je weiter sie nach Aleppo kommen, bleichen sie aus, werden Frauen wie Kleider zu Fetzen. Die Zeitungen bilden natürlich in erster Linie die schönen Bilder ab. Das ist vielleicht ein falscher Effekt. Die Entwicklung müsste in Fotostrecken oder zumindest zwei Bildern – vorher, nachher – gezeigt werden.

 

Vittorio: Unsere Devise lautet beim Filmemachen: Realismus plus Fantasie.

 

Das Gespräch führte Marc Hairapetian am 14. Februar 2007 im Berliner Hotel Mandala.