“Dann drehe ich auf dem Mond“

„Die Halbstarken“-Regisseur Georg Tressler über Horst Buchholz, seine Heimatstadt Wien, Walt Disney, Edelpornos, die Sprache der Straße und warum er mit 87 Jahren noch Lust hat, einen neuen Film zu drehen.


Von Marc Hairapetian

Er gilt als der „deutsche Elia Kazan“, der mit den neorealistischen Horst-Buchholz-Dramen „Die Halbstarken“ (Bundesfilmpreis 1956), „Endstation Liebe“ (1957) und „Das Totenschiff“ (1959) den Staub der Landstraße in das sterile Kino der Wirtschaftswunder-Ära brachte: Den am 25. Januar 1917 in Wien geborenen Georg Tressler zog es nicht – wie seinen Vater Otto - zur Bühne des Burgtheaters, sondern hinter die Filmkamera. Nach ersten Kurz- und Dokumentar-Streifen in den 1930er bis –50er Jahren, konzentrierte er sich auf den Spielfilm. Nach seinem Disney-Intermezzo „The Magnificent Rebel“ („Schicksalssymphonie“), widmete er sich ab 1962 vermehrt dem Fernsehen und schuf ZDF-Klassiker wie „FMD – Psychogramm eines Spielers“. Seine letztes Kinowerk „Sukkubus“ drehte er 1989. Bis in die 1990er Jahre war er als Fernsehregisseur aktiv („Marienhof“, „Schloss Hohenstein“). Heute lebt Georg Tressler mit seiner dritten Ehefrau im sächsischen Belgern. Kürzlich erschien Robert Buchschwenters und Lukas Maurers Analyse seiner Arbeit in Buchform: „Halbstark.“ (Filmarchiv Austria, Wien 2003).

Marc Hairapetian: Herr Tressler, Sie sind Ehrengast bei der diesjährigen Berlinale. Kurioser Weise werden nicht Ihre große Spielfilme gezeigt, sondern Ihre Dokumentationen aus den frühen 1950er Jahren, die vom Budget des Marshallplans finanziert wurden. Schmeichelt das Ihnen, oder amüsiert Sie das?

Georg Tressler: Ehrlich gesagt, beides. Ich hab mit Kosslick droben in seinem Büro ein längeres Gespräch gehabt; er will mit mir über die „Marshall-Plan-Filme“ in einem kompetenten Kreis diskutieren. Ich kam damals zu diesen Filmen fast wie die Jungfrau zum Kind: Zuerst drehte ich in Österreich erste 20 bis 40minütige Dokumentationen. Mein Weihnachtsstreifen „Stille Nacht, heilige Nacht“ fiel der amerikanischen Marshall-Plan-Gruppe auf, die auch in Europa mit ihren Informationsfilmen die Produktivität der durch den Zweiten Weltkrieg zusammen gebrochenen Industrie wieder ankurbeln wollte. Zunächst wurden aus den USA stammende Dokumentationen im europäischen Raum synchronisiert. Ich konnte dann vor Ort in deutscher Sprache drehen. Mittels des sogenannten „mobile movie showing“ mit extra dafür ausgestatteten Autobussen wurde meine Art von Informationsfilmen, für die ich seinerzeit sogar einige Preise gewann, den Bauern und Arbeitern auf dem Land innerhalb von Vortragsreihen vorgeführt.

MaHa: Stimmt die Aussage von Ihrem späteren Drehbuchschreiber Will Tremper: „Wenn jemand einen solch genialen Film über Kartoffelanbau machen kann, kann er alles.“?

Tressler: Ja, er ergänzte seinerzeit den Satz vor der Presse noch mit einem in einer Frage gekleideten Lob: „Was macht er dann mit einem anspruchsvollen Film?“ Tremper war ja sehr innovativ, ständig an allem interessiert, dabei aber niemals hochnäsig.

MaHa: Ihr Vater Otto Tressler war ein sehr bekannter Burgtheaterschauspieler. Hat Sie dadurch der Bazillus gestochen, Regisseur zu werden?

Tressler: Obwohl ich damit aufgewachsen bin, hat mich das Theater nicht so interessiert – nach dem Motto: „Tür links, Tür rechts. In der Mitte kannst du auch kommen.“ Das war doch lediglich eine reine Sprachdemonstration. Mich hat von Anfang an das Kino als interessantestes Medium fasziniert. Natürlich habe ich für meine eigenen Leinwandwerke später auch gute Dialoge gebraucht, die ich dann zum Teil selber frisiert habe. Damals in den 1950er bis 70er Jahren haben die Autoren noch oftmals sehr konstruierte, theaterwirksame Sätze gehabt. Theater ist Sprache, da kann ich auch ein Buch lesen. Fairerweise muss ich sagen, dass ich auch sehr gute Stücke gesehen habe. Doch ich fand s ziemlich arm in der Demonstration der Bilder. Mich hat die Sprache der Straße interessiert. Die Lebendigkeit der Welt. Egal, ob ein Film aus Italien, Peru oder New York kam. Die Filmkamera allein ist ja für sich schon ein Kunstwerk.

MaHa: Sie haben sich das Filmemachen autodidaktisch beigebracht. Von Schauspiel- und Filmhochschulen halten Sie wohl nicht sehr viel?

Tressler: Nein, ich erinnere mich an einen Besuch im berühmten Max-Reinhardt-Seminar. Dort suchte ich junge Darsteller. Was ich da in einer halben Stunde gesehen habe, hat mich nur bestätigt. Da wurde gefeilt! Wenn ein Kind oder Jugendlicher etwas gemacht hatte, war es schon schlecht. „Nein, so nicht. Du musst das, du musst jenes...!“ Das kann man zwar machen, doch für mich ist so etwas unheimlich penetrant. Man hat die Originalität der jeweiligen Person total manipuliert – und sie damit total verunsichert. Die Persönlichkeit der Kinderdarsteller wurde nicht gefördert. Das ist nicht mein Weg. Ich wollte einfach im Film arbeiten. Egal ob mit professionellen Schauspieler oder Laien. Wichtig ist, dass sie natürlich erscheinen.


MaHa: Wie sind Sie zum Spielfilm gekommen?

Tressler: Irgendwann hatte ich von der Wiener Behäbigkeit die Nase voll und bin mit einer großen Schachtel mit meinen 35mm-Filmrollen nach München gefahren, habe mir dort ein kleines Zimmer gemietet und mit Filmproduktionsfirmen telefoniert. Über Will Tremper kam dann der Kontakt zu der in Berlin-Lankwitz ansässigen Produktionsgesellschaft von Wenzel Lüdecke zustande. Dessen ersten Versuche auf diesem Gebiet waren doch ein wenig altväterlich geraten. Ihm waren die eigenen Filme zu artifiziell. Will sagte ihm: „Dann musst Du es anders angehen. Du kannst nicht ewig diese Dieter Borsche-/Ruth Leuwerik-Filme machen. Das hat sich totgelaufen. Nimm Tressler, der macht preiswerte-realistische Filme, die mit einer Selbstverständlichkeit und ganz ohne Allüren gedreht sind.“ Der Erfolg meines Debüts „Die Halbstarken“ beruhte darauf, dass er so komplett anders war als die damaligen deutschen Spielfilme.

MaHa: Das Interessante bei Ihnen ist ja auch, dass Sie zwischen den Fronten stehen: zwischen Opas Kino und den Jungregisseuren des „Oberhausener Manifests“, die 1962 die deutsche Filmlandschaft aufrütteln wollten. Will Tremper und Sie hatten trotz des enormen Erfolgs in Deutschland immer einen gewissen Außenseiterstatus. Empfanden Sie das damals selber so? Wie sehen Sie das heute?

Tressler: Ich sehe es durchaus so. Ich galt so ein bisschen als „Der Österreicher“. Dazu kommt, dass ich mich nicht in Szene gesetzt habe wie z.B. ein Herr Alexander Kluge. Der hat in Talkshows immer gewusst, gescheit daherzureden und seine Projekte wirksam zu präsentieren.. Solche Leute reden besser, als sie Filme machen können. Das gehört wohl zur Etablierung dazu. Bei aller Bescheidenheit steht aber eines fest: Will und ich waren schon vor der französischen „nouvelle vague“, die mir übrigens ausgezeichnet gefiel, da. Die Leute vom Oberhausener Manifest sind hingegen nicht an mich herangetreten. Ich gehörte nicht zu dieser Art von Intellektuellen.

MaHa: Die B. Traven-Adaption „Das Totenschiff“ hat nicht nur Horst Buchholz, mit dem Sie zuvor „Die Halbstarken“ und „Endstation Liebe“ drehten, nach Hollywood gebracht. Während er 1960 als Revolvermann in „The Magnificent Seven“ agierte, drehten Sie im selben Jahr für Walt Disney das Beethoven-Melodram „The Magnificent Rebel“. Wie kam der Mickey-Mouse-Erfinder ausgerechnet auf Sie?

Tressler: Walt Disney suchte für das Beethoven-Thema einen Europäer. Dafür hatte er sich viele Filme von wunderbaren deutschen Regisseuren angesehen, und die Wahl fiel zu meinem Erstaunen auf mich. Disney lud mich zum Essen ein, „You were the best!”, sagte er, und ich errötete. Er meinte, ich hätte das richtige Feeling und einen guten Rhythmus, aber dieser Film würde etwas ganz anderes, als das was ich bisher gemacht hätte, ein Kostümfilm für das amerikanische Publikum. Das Endresultat gefiel mir nicht besonders, aber mir war von Anfang an klar, dass dieser Dreh was ganz anderes war, als meine bisherigen Filme und damit auch mein persönlicher Anspruch. Disney hatte selbst zu mir gesagt: „Mach` den Film nicht zu modern, das amerikanische Volk soll durch ihn vor allem lernen, was gute Musik ist.“

MaHa: Welche Erinnerung haben Sie an Walt Disney?

Tressler: Er war ein sehr sympathischer Mensch, der nicht wie Visconti mit zwölf Personen durch die Gegend reiste und Arbeit delegierte Im Gegenteil: Walt war ganz natürlich und unprätentiös, was schon darin Ausdruck fand, dass er jeden Pförtnernamen im Studio kannte.

MaHa: Wie James Dean war Ihr bevorzugter Akteur Horst Buchholz innerlich zerrissen, doch gerade dies schien ihn zu schauspielerischen Glanzleistungen zu beflügeln. Sie waren bei seiner Beerdigung im letzten Jahr. Was ist Ihre Erklärung für sein trauriges Ende?

Tressler: Von Horsts Zerrissenheit hat man erst spät erfahren, als er in keiner guten Verfassung mehr war. Als ich mit ihm drehte, war alles wunderbar. Ich erinnere mich noch, wie ich nach dem „Totenschiff“ zu ihm sagte: „Horst jetzt bist Du am Zenit. Was machst Du eigentlich, wenn Du 40 oder 45 bist?“ „Dann drehe ich auf dem Mond“, lachte er. Er war so voller Power und absolut positiv. Das ging so wahnsinnig weg in den letzten Jahren. Meine Erklärung für seinen Niedergang ist, dass er das falsche Leben geführt hat. Er hat bei allem Sinn für Humor diesen Starnimbus, der ihn in den 50er und 60er Jahren umgeben hat, wohl zu ernst genommen. Dazu kommt, glaube ich, seine Bisexualität, das Trinken und der übermäßige Zigarettenkonsum. Das verträgt doch kein Mensch, erst recht nicht so ein zarter wie Horst. Im „Planet Hollywood“ traf ich ihn Ende der 90er bei Will Trempers Buchpräsentation das letzte Mal. Wir waren so sehr von Fotografen und Presseleuten umringt, das ein ernsthaftes Gespräch leider unmöglich war. Anfang letzten Jahres telefonierten wir noch miteinander. Er wollte mich zu seinem 70. Geburtstag einladen. Da hätte ich ihn dann fragen wollen: „Horst, was ist mit dem Mond?“ Es kam nicht mehr dazu.

MaHa: Was halten Sie von Bernd Eichingers „Halbstarken“-Remake?

Tressler Da kann ich nur den Kopf schütteln. Das war ja gor nix, auch wenn ich als Mitautor für die Urheberechte ca. 50.000 DM erhalten habe. „TV-Movie“ nannten sie es großspurig – ein Scheißdreck war es! Der gute Bernd Eichinger. Tüchtig wie er ist, hat er halt auch die Regie versucht. Dabei setzte er alles in den Sand.

MaHa: Warum drehten Sie in den 1960er Jahren bis auf Ausnahmen wie „Der Weibsteufel“ dem Kino den Rücken zu, um vermehrt fürs Fernsehen zu arbeiten?

Tressler: Das entscheidendste, warum ich überhaupt ins Fernsehen ging, ist bisher gar nicht publik geworden. Es war die Ablehnung dieses großen Tamtams. Der Pathos der Filmschauspieler. Und last but not least widerten mich die Einschnitte von Produktionsfirmen und Verleihgesellschaften an. Ein ekelhaftes Durcheinander von Gesetzen und Vorschriften. Genau wie bei den Politikern, die gute Vorsätze haben, sie aber nicht ausführen, weil sie erst gar nicht zusammenkommen. Das war mir zuviel. Indem ich mich in Serien und kleine Filme begeben hatte, konnte ich mir unheimlich viel Freiheit verschaffen. Nehmen Sie „Nationalkomitee Freies Deutschland“, den wunderbaren, sehr sozialistischen Film „Ein Mann, der nichts gewinnt“ oder das Dokumentarspiel „FMD – Psychogramm eines Spielers“ mit dem großartigen, in seiner Übersensibilität einzigartigen Paul Albert Krumm als Dostojewski. Dazu brauchte ich den pompösen, aber letztendlich sterilen Betrieb der deutschen Kinoindustrie nicht.

MaHa: Ihre Devise heißt also “Raus aus den Ateliers, hinein in die Natur!“?

Tressler: Richtig. Beim Weibsteufel“, einer seinerzeit völlig missverstandenen Dreiecksgeschichte um einen alten Bauer, seine junge Frau und deren Liebhaber, wollte Produzent Otto Dürer in einem Salzburger Studio mit gestrichenen Türen drehen. Ich bestand darauf das Stück, das schon mein Vater an der Burg spielte, in die heutige Zeit zu verlegen und an einem echten abgefuckten Bauernhof der seltensten Sorte zu drehen. Filme müssen so genau gemacht sein, als ob man durch ein Schlüsselloch blickt.

MaHa: Mit Christoph Schlingensief als Regieassistenten haben Sie es 1989 bei ihrer letzten Kinoarbeit „Sukkubus“ nicht lange ausgehalten...
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Tressler: Nein wirklich nicht. So sympathisch er auch ist. Ich habe ihm und Produzent Franz Seitz gesagt: Ein Film lebt möglichst von der Initiative eines Mannes. Jeder Assistent will sich profilieren. Das nehme ich ihn auch nicht übel, aber nicht in meinem Film. Christoph hat es auch verstanden


MaHa: Was halten Sie von neuen deutschen Filmen?

Tressler: Viele sind schlicht grauenhaft – siehe „Das Wunder von Bern“. So etwas altmodisches, humorloses, unmenschliches wird ganz groß aufgezogen und auch noch gefeiert! Da kriege ich eine Wut, das ist doch reinste reine Mache.

MaHa: 1974 haben Sie sich unter dem Pseudonym Hans Georg Keil mit „Stosstrupp Venus bläst zum Angriff“, auch bekannt unter dem englischen Titel „2069 – A Sexy Odyssey“, im Erotik-Genre hervorgetan...

Tressler: Ja, ich bin eben vielseitig (lacht). Das Pseudonym habe ich bei meinem Großvater mütterlicherseits entliehen. Nachdem ich mir im Urlaub in Sankt Moritz beim Skifahren den Arm gebrochen hatte, wollte ich meinem Freund, dem Produzenten Georgie Reuter, bei der Herstellung dieses ins Stocken geratenen Projekts ein wenig unter die Arme greifen: Heraus kam dabei ein kommerziell immens erfolgreicher Science-fiction-Edelporno, der geradezu lächerlich gegenüber heutigen Streifen wirkt.

MaHa: Wenn man mit Ihnen spricht, bleibt einem Ihre ungeheure Energie nicht verborgen. Hätten Sie Lust noch einen Film zu drehen? Als ich dies Elia Kazan einmal mit 87 Jahren fragte, antwortete er: „Nein, dazu braucht man die Kraft eines wilden Tieres“.

Tressler: Wenn ein gutes Angebot vorläge, würde mich das so animieren und so aktivieren, das ich noch mal zugreifen würde. Filme machen fällt mir noch leichter, als das Gespräch mit Ihnen. Man bräuchte einen Partner, der eine Geschichte ausformuliert. So einen wie einst Will Tremper oder Johannes Mario Simmel. Vielleicht wäre das aber auch die Aufgabe für einen ganz jungen Menschen.

MaHa: Viele Ihrer Freunde und Partner haben Sie überlebt. Wie leben Sie damit?

Tressler: Die Granaten kommen näher. Was soll man machen, wenn man weiß, dass das Leben begrenzt ist? Ich hab nie geraucht, nie gesoffen, habe Sport getrieben. Das sind Pluspunkte. Manchmal steht man selbst neben sich und denkt: Was, das habe ich alles erleben dürfen? Horst Buchholz` Tod hat mich sehr getroffen. Dass ich vor dem Sarg in der Gedächtniskirche sitze als 20 Jahre älterer, ist schon sehr traurig Deswegen habe ich mich auch gern für die Dokumentation seines Sohnes Christopher zur Verfügung gestellt.
Ich denke schon über denTod nach Das muss man nehmen wie einen realistischen Film.

Das Gespräch führte Marc Hairapetian.