Nur ein Film?
„Ararat“ - Atom Egoyans filmisches Meisterwerk
über den Völkermord an den Armeniern
Von Marc Hairapetian
Nur ein Film?
„Ararat“ - Atom Egoyans filmisches Meisterwerk
über den Völkermord an den Armeniern
Von Marc Hairapetian
Es ist wahrscheinlich das bis heute am meisten verdrängte und verleugnete
Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts: Der von der jungtürkischen Regierung
legitimierte und verübte Völkermord an den Armeniern im Osmanischen
Reich in den Jahren 1915 – 18. Am 15. September 1915 ordnete Großwesir
Taalat Pasha in einem Telegramm an die Präfektur von Aleppo an: „Das
Recht der Armenier, auf dem Gebiet der Türken zu leben und zu arbeiten
wird gänzlich abgeschafft.“ 1,5 Millionen Armenier sollten bei
den darauf einsetzenden Massakern und Deportationszügen den Tod finden
– fast die Hälfte des Volkes, das als erstes im Jahr 301 mit eigener
Schrift und Kirche das Christentum als Staatsreligion anerkannte. Am 15. März
1921 wurde der inzwischen als Kriegsverbrecher geltende und flüchtig
gewordene Taalat auf der Hardenbergstraße in Berlin von dem armenischen
Studenten Soromon Thelerjan erschossen. Der Prozess gewann insofern eine „weltgeschichtliche
Bedeutung“ (Armin T. Wegner), da das Gericht Thelerjan, der seine gesamte
Familie bei den Todesmärschen verloren hatte, freisprach. Die Rollen
von Täter und Opfer vertauschten sich - und der Völkermord an den
Armeniern kam dadurch nicht nur an das Licht der deutschen, sondern auch internationalen
Öffentlichkeit.
Der Genozid ist im Film einige Male thematisiert worden: Von Elia Kazans differenziertem
Emigranten-Drama „America, America“ („Die Unbezwingbaren“)
bis zu „Henri Verneuils Alterswerk „Mayrig“, das in Deutschland
noch nie im Kino gezeigt wurde. Noch größer allerdings ist die
Zahl der Projekte, die aufgrund türkischer Interventionen nicht zustande
kamen. So plante MGM bereits 1932/33 eine großangelegte Adaption von
Franz Werfels historisch verbürgtem Widerstandsepos „Die vierzig
Tage des Musa Dagh“, bei dem sich eine Handvoll armenischer Zivilisten
auf dem „Moses-Berg“ erfolgreich gegen eine türkische Übermacht
verteidigte, bis Ihnen von der Meeresseite ein französisches Kriegsschiff
zur Hilfe eilte. Der Film wurde nie gedreht, weil die Türkei den USA
mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen drohte. Seit einem Jahrzehnt
versucht nun der deutsche Produzent Ottokar Runze, der die Verfilmungsrechte
an Werfels Roman erworben hat, das Schicksal der seit dem Holocaust vorderrangig
in der Diaspora lebenden Armenier auf Zelluloid zu bannen. Als Ausführenden
Produzenten konnte er Milos Forman gewinnen.
Nun hat der in Ägypten geborene und in Kanada aufgewachsene armenische
Autorenfilmer Atom Egoyan seinen ganz eigenen Weg gefunden, die grausigen
Geschehnisse der Vergessenheit zu entreißen. Egoyan entschied sich den
Genozid von der Gegenwart aus zu thematisieren. Um die Greueltaten der Vergangenheit
darzustellen, wendet er einen intelligenten Kunstgriff an: Der von Charles
Aznavour verkörperte Regisseur Saroyan dreht einen Film über den
Völkermord an den Armeniern, wobei ihm der heute in der Türkei gelegene
armenische Berg Ararat, an dessen Gipfel der Bibel nach einst Noahs Arche
strandete, als unverrückbares Symbol für den Überlebenswillen
der seit Jahrhunderten von den Herrschaftsansprüchen fremder Reiche heimgesuchten
Armenier gilt. Egoyans Alter ego Saroyan alias Aznavour will der sogenannten
„zivilisierten Welt“ die fast vollständige Vernichtung der
dreitausend Jahre alten Kulturnation im Stile Hollywoods vor Augen führen!
Durch zahlreiche Auseinandersetzungen mit der als Beraterin engagierten fanatischen
Kunsthistorikerin Ani (Egoyans Frau Arsinée Khanjian), die wiederum
lieber über das Werk des Malers Arshile Gorky referiert als ihrem eigenen
Sohn Raffi (David Alpay) über den geheimnisvollen Tod seines Vaters aufzuklären,
entscheidet sich der alte Meister im Verlauf der Dreharbeiten doch noch für
eine authentische Darstellung statt auf Spektakel und Effekte zu setzen.
Scheinbar mühelos wandern Egoyan und sein versierter Kameramann Paul
Sarossy bei diesem Film im Film auf der Suche nach Wahrheit und Versöhnung
durch Zeiten und Räume. In der Rahmenhandlung erzählt der junge
David, der im Ursprungsland seiner Eltern Landschaftsaufnahmen für Saroyan
gemacht hat und unwissend in einer der Filmrollen Drogen für einen Bekannten
nach Kanada schmuggelt, beim Verhör dem Zollbeamten (Christopher Plummer)
die Geschichte vom Völkermord und der Suche nach eigener Identität.
Die aufwendige Nachstellung der historischen Ereignisse, die auf Clarence
Ushers Augenzeugenbericht „Ein amerikanischer Arzt in der Türkei“
basiert, geht manchmal an die Grenze des Erträglichen: Armenische Frauen
werden von den Jungtürken vergewaltigt und anschließend massakriert,
während Kinder erschossen und Männer durch den Krummsäbel enthauptet
werden. Alles nur ein Film, versucht man sich als Beobachter einzureden, doch
spätestens, wenn sich nach der Premiere von Saroyans endlich fertig stellten
Film die Problematik zwischen den Charakteren fortsetzt und in ihnen, die
durch die Verleugnung von Generation zu Generation vererbte Tragik der armenischen
Geschichte zu spüren ist, drängt sich dem Zuschauer die unumstößliche
Wahrheit auf.
Egoyan verteufelt dabei die Türken nicht. Er macht auch nicht die Nachfolgegenerationen
für die Verbrechen der jungtürkischen Regierung verantwortlich.
Vielmehr sucht er den Diskurs mit der heutigen Türkei. Elias Koteas,
der sowohl physiognomisch als auch vom seinem nuancenreichen Spiel an Robert
de Niro erinnert, schlüpft als türkischer Schauspieler Ali aus Bewunderung
für den Meisterregisseur Saroyan in die Rolle eines sadistischen osmanischen
Befehlshabers. Außerhalb des Sets ist er ein herzensguter Mensch, der
offensiv, aber nicht militant mit der eigenen Homosexualität umgeht.
In der Diskussion mit David, der den Dreharbeiten beiwohnt, hält er den
Völkermord allerdings für eine Erfindung der Armenier (deren intellektuelle
Führung zu Beginn mit den Jungtürken sogar kooperierte, um das Osmanische
Reich zu modernisieren). Er hat es nicht anders gelernt, denn in den türkischen
Geschichtsbüchern steht bis heute nichts über den Genozid an den
Armeniern. Hier nähert sich Egoyan der zentralen Frage des Films, die
er selbst im Interview aufgreift: „Wie soll man beginnen, einem Staat
zu verzeihen, der die Geschehnisse bis heute verleugnet? Es gibt immer noch
einzelne Türken, die es verleugnen, und das schmerzhafteste ist, dass
es viele junge Türken gibt, die nie etwas darüber gehört haben.
Wie soll man mit jemanden über Vergebung reden, der nicht mal weiß,
dass etwas passiert ist?“
Während zahlreiche Länder, darunter Frankreich und am 16. Dezember
2003 auch die für ihre Neutralität bekannte Schweiz, den Völkermord
an den Armeniern längst anerkannt haben, ist dies sowohl von türkischer,
als auch deutscher Seite noch immer nicht geschehen. Hierzulande startet „Ararat“,
der in Kanada mit fünf Genie-Awards ausgezeichnet und von der „New
York Times“ als „gedanklich herausforderndster Film des Jahres“
bezeichnet wurde, gerade Mal mit fünf Kopien, so dass wohl leider nur
ein geringer Teil der in Deutschland lebenden Türken Gelegenheit haben
wird, sich mit einem der schwärzesten Kapitel der eigenen Vergangenheit
auseinander zusetzen. Für die Türkei selbst hat der mutige Verleiher
Belge „Ararat“ eingekauft. Allerdings dürfte der Film dort
nur mit Schnittauflagen zur Vorführung gelangen. Das will Egoyan natürlich
nicht. Momentan ruhen die Verhandlungen. Egoyans differenzierter Film könnte
der Anfang einer lange Zeit nicht mehr für möglich gehaltenen Annäherung
zwischen Türken und Armeniern sein.
Marc Hairapetian